101 Drabbles

Ein Drabble ist eine meist pointierte Geschichte, die aus exakt 100 Wörtern bestehen muss. Dabei wird die Überschrift nicht mitgezählt. Ursprünglich als Fanfiction betrieben, wird sie aufgrund ihrer einfachen äußeren Form gerne von ungeübten Autoren als Einstieg in Lyrik oder Prosa genutzt. Wikipedia


Ein seltener Fall spontaner Geistesgestörtheit

Schubert, siebenundvierzig Jahre alt und ledig, lag am Boden. Er hatte sich die Morgenzeitung über den Kopf gezogen, so wie Kinder sich die Bettdecke über den Kopf ziehen und glauben, dadurch unsichtbar zu werden. So fand ihn die Haushälterin. Da sich der Bedauernswerte weder klar artikulierte, noch dazu zu bewegen war aufzustehen, informierte sie dessen Schwester, die wiederum den Rest der Familie und einen Arzt ins Haus zitierte. Weil etliche Seiten der Zeitung nicht mehr auffindbar waren, stand zu vermuten, dass Schubert diese aufgegessen hatte. Einer Überprüfung dieses Umstandes und jeder weiteren Untersuchung, widersetze er sich auf höchst infantile Weise.

Silvester im Odenwald

Durch die von innen beschlagenen Fensterscheiben erkannte man nur schemenhaft die noch verbliebenen Partygäste. Adrian drückte seine Zigarette in den Schnee auf dem Fenstersims. Raoul, der seinem Harndrang an einem Jägerzaun freien Lauf gelassen hatte, torkelte auf ihn zu und baute sich vor ihm auf. „Ich verrate dir was“, lallte er. „Jeder Tag stellt dich vor die einfache Wahl, ob du einer von denen sein willst, die weinen, oder einer von denen, die feiern“. Er ließ seinen Finger an seiner Schläfe kreisen, was soviel heißen sollte wie „hast du kapiert?“ und musterte Adrian belustigt. Der holte, nach kurzem Nachdenken, aus.

Willkommen bei der „unglaublich aber wahr“ Show. Freddy

Freddy war ein kaputter Typ und als ich ihn kennenlernte, war ich selbst ziemlich am Ende. Wir verstanden uns auf Anhieb. Nach anderthalb Flaschen Doornkaat rückte er damit heraus, dass er gerade einen Entzug abgebrochen hatte. Schwerstalkoholiker, depressiv und Träger tiefer Augenringe, die keinen Zweifel daran ließen, dass er seit langem sehr schlecht schlief; damals gab ich ihm nur noch ein paar Monate. Als ich ihm, zu meiner Überraschung, fünfzehn Jahre später begegnete, erzählte er, seine beiden Königspudel hätten am Abend zuvor in sein Auto geschissen. „Kein schöner Anblick“, schloss er, nachdem er mich minutiös in die Einzelheiten eingeweiht hatte.

Spurlos

Im fensterlosen Gang vor den Duschräumen summten die Neonröhren und der Geruch von Desinfektionsmitteln und billigem Haarspray hing in der Luft. Sie schulterte ihre Sporttasche und warf einen Blick in den Wandspiegel neben dem elektrischen Haartrockner. Auf der Treppe nach oben nahm sie immer zwei Stufen gleichzeitig. Zuhause wartete man an diesem Tag nicht auf sie, denn es kam öfter vor, dass sie sich nach dem Training verspätete. Wie üblich, begann man pünktlich mit dem Abendessen. Erst nachdem der Tisch abgeräumt war, begann man sich Sorgen zu machen. So stand es später im Bericht der Sonderkommission, die ihr Verschwinden untersuchte.

Endspiel

„Was auch immer heute Nacht passiert Baby, vergiss nicht, dass ich dich liebe“, sagte er, bevor er ging. Er war zum Fussball schauen verabredet. Europameisterschaft, oder so. Ich blieb mit seiner Freundin zurück, mit der ich ein paar Monate zuvor zusammen war. Sie sagte einmal, ich käme wie ein Hengst und sie war die erste Frau, mit der ich Analverkehr hatte. Das mit dem Hengst war schmeichelhaft, aber so richtig gut hatte ich sie wohl nie bedient. Das Wort „Liebe“ hing den Abend über, den wir mit viel schlechtem Wein hinter uns brachten, wie eine Wolke aus Dichtschaum im Raum.

Das Wunder von Aachen

Der Sommer kam spät in jenem Jahr. Es schien, als hätte er sich für den Herbst aufgespart und wollte nun gar nicht mehr gehen. Jeden Tag sagte jemand: „Das wird wohl der letzte schöne Tag im Jahr sein“ und alle, die es hörten, nickten. Und wenn sich am nächsten Morgen dann die ersten Sonnenstrahlen zeigten, rieb sich bestimmt jemand die Augen und sagte: „Das wird der letzte schöne Tag im Jahr werden“ und jemand, der es hörte, nickte. An einem jener „letzten“ Tage lernte er sie kennen. Während er an ein Wunder glaubte, meldeten die Nachrichten Nachtfrost und steigende Heizölpreise.

Herbstgespräch

„Ich dachte immer ich würde einmal etwas Bedeutendes schaffen, im Leben. Irgendwann wurde mir klar, dass ich wohl kein Genie bin. Inzwischen bin ich zu alt, um es durch Arbeit zu etwas zu bringen.“ Der Mann war in den Fünfzigern. Sie hatte das Gesagte schon oft gehört. Von anderen Männern seines Alters. Er redete leise weiter. Ihr Blick wanderte zum Fenster hinaus. Der Garten war in die Farben des Herbstes getaucht und in der Morgensonne glitzerte Tau auf den Stauden. „Wären sie früher gekommen, hätte ich Ihnen vielleicht helfen können“, unterbrach sie ihn. Den Rest der Sitzung verbrachten sie schweigend.

Despoten in Vorführräumen

Mein Großvater war Filmvorführer. Zumindest übte er diese Tätigkeit einige Zeit lang aus. Es muss in Kassel oder Bebra gewesen sein, wo er vor dem Zweiten Weltkrieg ansässig war. Nach Krieg und Gefangenschaft zog er mit seiner Frau und seiner Tochter, meiner Mutter, ins Saarland. Dort arbeitete er in der Völklinger Stahlhütte. Meiner Mutter verbot er ins Kino zu gehen. Auch später, als sie bereits verheiratet war. Die Filme würden alle irgendwann im Fernsehen gezeigt, sagte er. Man kann daraus schließen, dass mein Großvater ein despotischer Mensch war, der anderen kein Vergnügen gönnte. Und ganz sicher war er kein Cineast.

Polnischer Abgang. Wer früher stirbt ist länger tot

„Hätte ich nicht gedacht“. Michał holte hörbar Luft und als er, ebenso hörbar, wieder ausatmete, bildete sich in der feucht-kühlen Luft eine kleine Kondenswolke. „Was?“, fragte Dr. Piotrowski. Im dem schmucklosen Zimmer standen nur das schmale Sterbebett und zwei einfache Stühle, auf denen sich die beiden Totenwächter niedergelassen hatten. „Dass er vor uns den Abgang macht“. Michał konnte als Erster nicht mehr an sich halten, doch nur wenig später kullerten auch dem Medikus vor Lachen dicke Tränen die Wangen hinunter. „Was soll man machen, außer Lachen?“, fragte er, als wieder andächtige Stille eingekehrt war. Michał zuckte ratlos mit den Schultern.

Zugbekanntschaft, Frankfurt-Aachen

Ich hätte da ein gutes Rezept für einen Apfel-Streusel-Crumble für Sie. Schälen und würfeln Sie fünf Äpfel, die Sie dann in eine Auflaufform geben und mit Zimt bestreuen. Bei säuerlichen Äpfeln, können Sie etwas Zucker hinzugeben. Alles gut durchmischen und frische Waldbeeren oder tiefgefrorene Früchte darauf verteilen. In den Teig kommen, lassen Sie mich überlegen, also zweihundertfünfzig Gramm Mehl, ungefähr hundert Gramm Zucker, zwei Teelöffeln Zimt und hundert Gramm zerlassener Butter. Der Teig muss trocken sein. Daraus machen Sie Streusel und die verteilen Sie auch über die Mischung. Bei hundertachtzig Grad fünfundvierzig Minuten backen. So, hier muss ich dann raus.

Burgwald, mein Burgwald

Auf einem dreckigen Schaufenster, hinter dem sich nichts breit macht außer gähnender Leere, steht zu lesen: „Teppiche nach tibetanischer Tradition“. Die billigen, selbstklebenden Buchstaben, die stellenweise bereits abblättern, lassen vermuten, dass die ehemaligen Inhaber auf schnellen Gewinn bei minimaler Investition hofften. Die fernöstliche Auslegeware scheint den Geschmack der Nordhessen nicht getroffen zu haben. Oder die exotische Textilie war der hiesigen Landbevölkerung zu teuer. Die Sparsamkeit, um nicht zu sagen der Geiz, der Ortsansässigen, wird vor allem von polnischen Pflegekräften beklagt, die hier ein bescheidenes Auskommen finden. In diesem speziellen Fall hätten die Tibeter also wohl besser vorher die Polen gefragt.

Burgwald, mein Burgwald (2)

Das handgemalte Schild, das seit Jahrzehnten den sofortigen Bau der Umgehungsstraße fordert, ist mittlerweile arg verwittert. Doch die Menschen hier haben den Glauben noch nicht verloren. Sie glauben an die Einsicht der Bezirksverwaltung, an Gerechtigkeit im Himmel und ein bisschen an die Osteopathie. Demnächst, so heißt es, soll die Umgehungsstraße tatsächlich gebaut werden. Die jetzige Hauptverkehrsstraße wird dann im Nirgendwo enden und alle, die ins Nachbardorf wollen, müssen einen Umweg in Kauf nehmen oder schlecht befestigte Feldwege nutzen. Auf dem Küchentisch liegen verschreibungspflichtige Medikamente, die Werbeblättchen hiesiger Gewerbetreibender und die Lokalzeitung, die man beiseite schiebt, wenn der Kaffee serviert wird.

In der Kolonie

Im zweiten oder dritten Jahr in dem wir Nachbarn in der Gartenkolonie waren, erzählte sie mir, dass sie hin und wieder am Eingang der Anlage Draht über den Gehweg spanne, um böse Geister fernzuhalten. Ich gab zu bedenken, dass die Maßnahme gegen Geister vermutlich ziemlich wirkungslos wäre und es stattdessen wahrscheinlich einen der Laubenpieper treffen würde. Dann hätte er es wohl verdient, sagte sie knapp. Die Sache war klar. Ich hatte es mit einer Irren zu tun. Später kam heraus, dass sie es natürlich nicht auf Geister abgesehen hatte, sondern auf eine ganz bestimmte Person, die mir namentlich bekannt war.

Craig gegen Lyesik

„Man merkt Anthony Craig an, dass er diese Runde überstehen will. Er weicht aus, aber auch das kostet natürlich Kraft. Und da ist er am Boden!! Aus!! Craig ist am Boden! Nur Sekunden vor der Glocke geht er auf die Matte! Perez zählt ihn an. Nein, das wird nichts mehr. Bleib unten Junge. Vorbei! Knock-Out in der sechsten Runde. Oh, das ist bitter für den Mann aus Phoenix. Da hatte er sich einiges ausgerechnet, gegen den vermeintlich schwächeren Ukrainer, der ihn hier dann regelrecht vorführt. In der Ecke reden sie auf ihn ein, aber was sollen sie ihm jetzt sagen?“

Latenzen

„Du hast mir nie erzählt, wie du Jorge eigentlich kennengelernt hast“. Andrea drehte ihrer Freundin, in Erwartung einer Antwort, das Gesicht zu. „Ist total uninteressant und nicht der Rede wert“. Valentina antwortete, ohne ihrerseits Andrea anzusehen, was die gespielte Gleichgültigkeit ihrer Bemerkung unterstreichen sollte. Es war erstaunlich, wie wenig sie sich vertrauten, obwohl sie sich schon einige Jahre kannten. Insgeheim schmiedete jede einen Plan und es sollten noch Monate vergehen, bis sich Valentina tränenreich und dramatisch, so wie sie es am liebsten mochte, von Jorge getrennt haben würde und Andrea ihr schließlich gestand, sich unsterblich in ihn verliebt zu haben.

Lokalnachrichten

Eine Böe, die von See herein kam und über den Deich fegte, trug Fetzen eines Satzes heran. „Abstand halten“, verstand sie, und etwas wie „reißen“ oder „Reifen“. Alles andere verschluckte der Lärm der Maschine, die landseitig die Böschung hinauf kroch. Der Mann in der graugrünen Öljacke konzentrierte sich jetzt wieder gänzlich darauf, das Gerät von der Deichkrone aus in der Spur zu halten. Die feuchte Witterung hatte die Seile, die er dafür benutzte, schlüpfrig werden lassen. Er erinnerte sie an einen Ringer. „Was passiert, wenn das Benzin alle ist?“, rief sie, genau in dem Moment, in dem das Motorengeräusch erstarb.